Reisebegleitung: Travel Blues
... und wie ein Morgen in Sri Lanka alles änderte
Es ist noch dunkel, als der Zug in den Bahnhof einfährt. Müde und erschöpft stemme ich mich von meinem Sitz hoch. Meine Muskeln fühlen sich verspannt an. Auch die anderen Menschen in meinem Abteil erheben sich nur mühsam. Es ist 05:30 Uhr und ich habe überhaupt keine Lust, mich zu bewegen. Ich bin jetzt seit sechs Monaten auf Reisen. Sechs lange Monate, in denen ich meine Familie und Freunde nicht mehr gesehen habe. Sechs lange Monate, in denen ich auf mich allein gestellt war. Und nun hat er mich erwischt: der Travel Blues. Ich fühle mich erschöpft und auch ein wenig einsam. Man könnte auch sagen: „irgendwie leer“. Mache ich etwas falsch? Ich bin doch losgezogen, um die Welt zu sehen – und nun fühle ich mich so antriebslos, ja melancholisch. Ob es wohl wieder besser werden wird? Oder sollte ich die Reise lieber abbrechen?
Die quietschenden Bremsen des Zuges reißen mich aus meinen Gedanken. Ich strecke mich, um meinen Rucksack von der Gepäckhalterung zu hieven. Die Fahrt mit dem Nachtzug von Colombo nach Trincomalee dauerte fast neun Stunden. Eigentlich hätten wir schneller sein sollen, aber so ist das mit den Zügen in Sri Lanka. Sie fahren, aber sie fahren nicht unbedingt nach Zeitplan – wobei das auch in Deutschland kein unbekanntes Phänomen ist. Naja, eine andere Transportmöglichkeit gab es für mich ohnehin nicht. Mein Zeitplan ist straff und ich möchte so viel von Sri Lanka sehen wie nur möglich. Fünfzehn Tage habe ich auf dieser tropischen Insel, die im indischen Ozean liegt, mehr nicht. Außerdem ist mein Budget begrenzt und das Leben kein Ponyhof. Also atme ich tief durch und lächle, als der Mann, der die gesamte Strecke auf dem Platz neben mir saß, meine Tüte mit Snacks nimmt und sie mir herüberreicht. Auch er sieht müde aus.
Trincomalee - eine Hafenstadt im Nordosten Sri Lankas
Mein Ziel – Trincomalee – befindet sich im Nordosten Sri Lankas und ist circa 270 Kilometer weit von der wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Hauptstadt Colombo an der Westküste entfernt. Als militärisch einst sehr bedeutsame Hafenstadt mit gegenwärtig rund 100 Tausend Einwohnern blickt Trincomalee auf eine Geschichte zurück, die von der Besetzung durch verschiedene Kolonialmächte, einem Luftangriff durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg und einem 25-jährigen Bürgerkrieg zwischen Singhalesen und tamilischen Separatisten geprägt ist, welcher erst 2009 sein Ende fand.
Aber nicht nur aufgrund dieser bedeutenden Geschichte steht Trincomalee auf meiner Bucket List. Ich erhoffe mir vor allem einen Kontrast zu Colombo. Nach zwei Tagen in dieser (für mich) zu lauten und zu hektischen Stadt mit mehr Tuk Tuks als beförderungswilligen Menschen sehne ich mich nach Ruhe und Erholung. Ich sehne mich nach weitläufigen Stränden und schöner Natur. Pigeon Island soll klasse sein, habe ich auf dem Blog „Back-Packer“ über Sri Lanka gelesen. Ein Meeresschutzgebiet, das über ein großartiges Korallenriff verfügt. Beim Schnorcheln kann man außerdem auf verschiedene Meerestiere treffen – von bunten Fischen über Schildkröten bis hin zu Riffhaien. Jedoch soll die kleine Insel bereits unter den touristischen Besuchen gelitten haben. Ich werde mir über einen potenziellen Trip also noch einmal Gedanken machen müssen.
„Hello, madame! You need a tuk tuk?“
Mit der gewohnten Last auf den Schultern begebe ich mich nun zur Tür des Zuges und steige aus. Verschlafene Menschen quetschen sich an mir vorbei und werden von ihren Familien und Freunden begrüßt. Gepäckstücke wandern durch zahlreiche Hände und die Gespräche werden lebendiger. Ich bin die einzige Touristin auf dem Bahnsteig. Nach einem kurzen Blick nach rechts und links wird mir klar, dass mein ursprünglicher Plan, mir mit anderen Backpackern ein Tuk Tuk zu teilen, nicht aufgehen wird.
Sei’s drum. Immerhin weiß ich, was ein Tuk Tuk für die Strecke bis zu meiner Unterkunft ungefähr kosten sollte – Rangan, der Besitzer meiner gebuchten Unterkunft, hat mir vorab eine Preisspanne via WhatsApp genannt. Ja, auch in Sri Lanka weiß man mit den bei Touristen beliebten Kommunikationsmitteln umzugehen. Einen groben Preisrahmen als Anhaltspunkt zu haben beruhigt mich. So muss ich mir nach einer schlaflosen Nacht nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen, ab welchem angebotenen Preis ich „Nein, danke“ sagen und weitergehen kann.
Ich steuere also auf den Ausgang zu und gebe mein Ticket ab. Behalten darf ich es leider nicht, auch nicht als Souvenir. „Hello, madame! You need a tuk tuk?“, höre ich einen älteren Mann rufen, kaum dass ich den Ausgang des Bahnhofs passiert habe. Er kommt hastig auf mich zu. Bemüht freundlich – und doch unruhig – versucht er, mich als erste Kundin des Tages zu gewinnen.
Jede Fahrt zählt
Die wirtschaftliche Lage in Sri Lanka ist auch 2023 sehr angespannt. Seit 2022 kämpft das Land mit einer schweren Wirtschaftskrise und leidet zudem stark unter dem Einbruch des internationalen Tourismus infolge der weltweiten Corona-Pandemie. Das ist mir bereits in Colombo bewusst geworden und wird mir auch in den noch folgenden Tagen meiner Reise immer wieder begegnen. Viele Menschen versuchen, über Tuk Tuk-Fahrten Geld zu verdienen – doch es ist nicht einfach, wie mir gestern ein Fahrer in Colombo mit den Worten „It is difficult“ beschrieb. Bis 1957 war Englisch übrigens die offizielle Landessprache in Sri Lanka. Viele Schilder sind daher nicht nur in Sinhala (Singhalesisch) und Tamil – den heutigen Amtssprachen – verfasst, sondern auch in englischer Sprache. Auch der Austausch mit Einheimischen ist in der Regel gut möglich, da Englisch als Verbindungssprache weit verbreitet ist.
Als der Tuk Tuk-Fahrer vor mir steht und mich anlächelt, frage ich ihn kurzerhand nach dem Preis bis zu meiner Unterkunft. Er holt ein Smartphone aus seiner Hosentasche und beginnt zu tippen. Dann streckt er mir das Display, welches an der oberen rechten Ecke einen tiefen Riss hat, entgegen. In der Taschenrechner-App lese ich die Zahl „850“. Ein wenig mehr als Rangan prognostiziert hatte, aber angesichts der frühen Stunde ein dennoch fairer Preis. Umgerechnet sind 850 Sri-Lanka-Rupien circa 2,50 Euro.
Da ich die knapp fünf Kilometer bis zur Unterkunft definitiv nicht laufen will, willige ich ein. Nickend sage ich: „Okay!“, und bemerke sogleich, wie die Anspannung aus seinen – ich schätze über 60 Jahre alten – Schultern weicht. Er führt mich zu seinem Tuk Tuk und nimmt mir den schweren Rucksack von den Schultern. Nachdem er ihn sicher verstaut hat, klettere ich ebenfalls in das kleine, dreirädrige Gefährt. Es ist rot, wie viele andere Tuk Tuks in Sri Lanka auch. Röhrend startet der Motor und unsere holprige Fahrt über teils befestigte und teils sandige Schotterstraßen beginnt.
Die zarte Mischung aus Rosa und Orange am Horizont hypnotisiert mich, während der Wind durch meine Haare weht.
Mittlerweile hat die Morgendämmerung die Dunkelheit verdrängt. Zwischen den Bäumen am Straßenrand kündigt sich ein sonniger Tag an – die zarte Mischung aus Rosa und Orange am Horizont hypnotisiert mich, während der Wind durch meine Haare weht. Ob ich wohl früh genug an der Unterkunft sein werde, um den Sonnenaufgang vom Strand aus zu beobachten? Wir werden sehen. Die frische Luft tut gut und der Schleier der Müdigkeit löst sich langsam auf.
„Toes in Sand – Beer in Hand“
„Hello, madame? We arrived!“, meldet sich mein Tuk Tuk-Fahrer. Er hat angehalten und dreht sich zu mir herum. Mit dem Finger weist er auf ein kleines, weißes Metall-Tor, das sich unscheinbar in eine ebenfalls weiße, circa 1,80 Meter hohe Mauer einfügt. Auf einem selbst gemalten Schild lese ich „The White House“ – der Name meiner Unterkunft. Dichte grüne Büsche und wunderschöne Blumen mit gelben und roten Blüten ragen meterhoch hinter der Mauer hervor. Zwei hoch gewachsene Palmen haben sich ebenfalls in das Bild eingefügt und machen mich neugierig, was hinter der Mauer noch auf mich wartet. Schnell krame ich nach meinem Geldbeutel und bezahle den Fahrer. Sichtlich dankbar registriert er, dass ich ihm auch ein wenig Trinkgeld gegeben habe.
Das Tor quietscht, als ich es öffne und hindurchgehe. Es empfängt mich ein Gartenbereich voller Charme. Leicht verwildert, mit Hängematten, die zwischen Bäumen gespannt sind, und einem Outdoor-Bett mit einem weiteren, selbst gemalten Schild: „Toes in Sand – Beer in Hand“. Ich muss schmunzeln.
Folge deiner Intuition
Ich stelle meinen Rucksack ab und öffne leise die Tür zum Haus. Es ist ein kleiner Bungalow mit einer Küche und drei Zimmern. Noch scheint niemand wach zu sein. Alles ist still und nur die Vögel zwitschern draußen. Nach kurzer Überlegung stelle ich meinen Rucksack ins Haus und schreibe Rangan via WhatsApp, dass ich gut angekommen bin und mich auf den Weg zum Strand mache. Den besonderen Moment, wenn die Sonne den Horizont überschreitet, werde ich bereits verpasst haben. Aber das ist nicht schlimm. Ich sehne mich gerade vor allem nach dem Gefühl von feinen Sandkörnern unter meinen Füßen – „Toes in Sand“, das ist jetzt genau das, was ich brauche. Zudem ich bin gespannt, ob der Uppuveli Beach wirklich so schön ist, wie viele berichten. Er liegt nur 500 Meter Luftlinie von meiner Unterkunft entfernt und soll abends sehr belebt sein. „Fernando’s Bar“ sei zudem eine beliebte Location für ein kühles Bier am Wasser.
Möglichst leise schließe ich das weiße Tor hinter mir und laufe über eine kleine befestigte Seitenstraße der Sonne entgegen. Ob dies tatsächlich der richtige Weg ist, weiß ich eigentlich gar nicht. Gut möglich, dass ich am Ende der Straße vor einem verschlossenen Tor stehen werde, denn laut Google Maps befindet sich dort ein Hotel. Aber meine Füße wollen genau dort hin. Sie tragen mich intuitiv diese eine Straße entlang. Als ich am Ende ankomme, sehe ich tatsächlich ein großes, eisernes Tor. Zu meinem Glück ist dies ein Stück aufgeschoben und ich trete – ein wenig zaghaft – hindurch.
Die Schönheit der Sonne am Horizont brennt sich in meine Netzhaut ein.
Mir stockt der Atem. Es ist, als ob sich ein Knoten in mir löst. Als ob sich der Travel Blues, der mich die letzten Wochen wie ein schwerer Anker nach unten gezogen hat, plötzlich in einem federleichten Nichts auflöst. Ich stehe vor einem Hotel-Pool und bewundere das goldene Licht, das sich darin spiegelt. Hinter dem Pool liegt der Strand. Die schlanken Palmen scheinen zur Sonne zu blicken – so, als hätten sie schon viel zu lange auf ihr Erscheinen warten müssen.
Travel Blues adé!
Meine Füße setzen ihren Weg fort und führen mich zum Strand. Die Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht und ich muss lächeln. Es ist so ruhig, so friedlich, und eine angenehme Wärme umgibt mich. Leise rauschen die Wellen und in der Ferne sehe ich bereits eines der ersten Fischerboote des heutigen Tages. Schnell streife ich mir die Flip-Flops von den Füßen und laufe die letzten fünf Stufen bis zum Strand herunter. Ich glaube nicht, dass sich ein Sandstrand unter meinen Füßen jemals so gut angefühlt hat. Ich genieße das Gefühl und schließe meine Augen einen kurzen Moment lang. Dann wandert mein Blick nach links. Der fast menschenleere, lange Sandstrand ist so wunderschön! Ein Jogger läuft direkt am Wasser entlang. Zu meiner Rechten sind bunte Boote am Wasser aufgereiht.
Das Bild erscheint mir unwirklich. So, als sei es einem Reisemagazin entsprungen und eigentlich gar nicht real. Aber es ist real. Ich sehe, wie zwei kleine Hunde zwischen den Booten herumtollen. Sie jagen sich gegenseitig, wälzen sich spielerisch im Sand und bringen mich zum Lachen. Ich gehe zu einer weißen Holzliege und beobachte von dort aus das kleine Spektakel, das begleitet wird von quiekenden Lauten. Meine Stimmung ist so gelöst wie die der kleinen Hunde. Lächelnd setze ich mich auf die Liege und mache es mir bequem.
Wir scheitern nicht am Travel Blues, wir wachsen an ihm!
Mein Blick wandert zum Horizont. Die Weiten des Golfes von Bengalen liegen vor mir und scheinen sich an den Himmel zu schmiegen. „Wie wunderbar die Welt doch ist!“, schießt es mir unwillkürlich durch den Kopf – „Und wie viel Energie sie einem liefert, wenn man sie nur lässt.“ Die Erkenntnis, dass ein einziger besonderer Moment wie der heutige Morgen in Sri Lanka meinen stillen Kampf mit dem Travel Blues von jetzt auf gleich beenden kann, beflügelt mich. Ich fühle mich nicht mehr einsam, auch wenn ich allein am Strand sitze. Nein, ich fühle mich rundum wohl. Alles ist gut so wie es gerade ist. Und mir wird klar:
Wir scheitern nicht am Travel Blues, wir wachsen an ihm!
„Good morning, madame! You want a tuk tuk to visit Koneswaram Temple?“, höre ich plötzlich jemanden neben mir sagen. Um die Sonne abzuschirmen und die Person besser zu erkennen, halte ich mir eine Hand über die Augen. Ein Mann um die Fünfzig mit ledriger Haut lächelt mich an. Ich überlege nicht lange und ergreife meine Chance auf ein neues Abenteuer.
Lies dir dieses Abenteuer in folgendem Beitrag durch:
Sri Lanka – Meine wilde Tuk Tuk-Tour durch Trincomalee
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